25

 

Der Rest des Tages verging in einem Wirbel von Besprechungen und dem Sammeln von Informationen. Nach Sonnenuntergang hatte Reichen ein paar seiner Leute zu Irina Odolfs Haus hinausgeschickt. Sie hatten berichtet, dass der Lakai fort war, offenbar hatte er es aus eigener Kraft geschafft, obwohl Elise ihn erheblich geschwächt haben musste, bei der Blutmenge, die er dort hinterlassen hatte.

Bewaffnet mit der Personenbeschreibung, die Elise ihm gegeben hatte, war Reichen schon in der Stadt auf der Suche nach potenziellen Hinweisen. Tegan hoffte, dass sie den Lakaienbastard bald lokalisieren würden, denn es juckte ihn in den Fingern, zu Ende zu bringen, was Elise begonnen hatte.

Was sie anging … So gerne Tegan sie einfach weiter im Arm gehalten hätte - oder noch besser, nackt in seinem Bett -, wusste er, dass es ein Pfad war, der ihn nur tiefer in endlose Verstrickungen führen würde. Stattdessen hatte er seine Aufmerksamkeit auf das Tagebuch gerichtet, das sie abgefangen hatten, und das Bündel Briefe, das Elise aus den Habseligkeiten von Peter Odolf gerettet hatte.

Beide enthielten mehrfach dieselben, eigentümlichen Sätze:

Burg und Ackerkrume sollen sich unter der Mondsichel zusammenfinden

auf die östlichen Grenzlande richte den, Blick Am Kreuz liegt Wahrheit

 

Es musste eine Art Rätsel sein, aber was es bedeutete - wenn es denn überhaupt etwas bedeutete -, musste sich erst zeigen.

Peter Odolf schien es auch nicht zu verstehen, obwohl seine Stammesgefährtin gesagt hatte, dass er diese Worte zwanghaft wieder und wieder niedergeschrieben hatte, in der Zeit, bevor er zum Rogue geworden war. Genau wie sein Bruder vor ihm.

Und auch wie derjenige, der einst das alte Tagebuch geführt und Dragos Dermaglyphensymbol auf dessen Seiten gekritzelt hatte.

Jetzt stand Tegan Peter Odolf in dessen Zelle gegenüber und beäugte den gefesselten Rogue mit herzlich wenig Geduld. Er und Elise hatten schon die ganze letzte Stunde in der Anstalt verbracht und waren mit ihrer Befragung keinen Schritt weitergekommen.

Odolfs Medikation war herabgesetzt worden, somit war der Rogue zumindest bei Bewusstsein, aber ansprechbar war er deshalb noch lange nicht. In einen frei stehenden, vertikalen Ganzkörperkäfig aus Drahtgeflecht geschnallt, die muskulösen Arme an den Seiten gefesselt, die Füße in Fußeisen, sah Peter Odolf in jeder Hinsicht wie das gefährliche Ungeheuer aus, das er war.

Sein großer Kopf hing ihm auf die Brust runter, die glühenden, bernsteingelben Augen bewegten sich hin und her, ohne etwas wahrzunehmen. Er schnaubte und grunzte durch die ausgefahrenen Fangzähne, dann begann er wieder, vergeblich an seinen Fesseln zu zerren.

„Sag uns, was es bedeutet“, forderte ihn Tegan über den Lärm von rasselndem Metall und tierhaften Schnüffellauten auf.

„Warum haben du und dein Bruder diese Sätze geschrieben?“

Odolf antwortete nicht, kämpfte nur weiter gegen seine Fesseln an.

„,Burg und Ackerkrume sollen sich unter der Mondsichel zusammenfinden‘“, rezitierte Tegan. „,Auf die östlichen Grenzlande richte den Blick’. Ist das ein bestimmter Ort? Was bedeutet das für dich, Odolf? Was hat es für deinen Bruder bedeutet?

Sagt dir der Name Dragos irgendwas?“

Der Rogue wand sich und zerrte an seinen Fesseln, bis sein Gesicht aussah, als würde es gleich explodieren. Er warf den Kopf hin und her und zischte wütend.

Tegan stieß einen frustrierten Seufzer aus und drehte sich zur Seite, um Elise anzusehen. „Das ist bloß verdammte Zeitverschwendung. Er wird uns gar nichts nützen.“

„Lass es mich versuchen“, sagte sie.

Als sie vortrat, entging Tegan die Tatsache nicht, dass Odolfs wilder Blick ihr quer durch den Raum folgte. Die Nasenflügel des Rogue bebten, als sein blutsüchtiger Körper arbeitete, um ihren Duft einzufangen.

„Geh nicht zu nah an ihn ran“, warnte Tegan und bereute es schon, dass er Elise versprochen hatte, keine Waffen gegen den Rogue einzusetzen - höchstens als allerletzten Ausweg. Als Erstes sollte er die Spritze mit dem Sedativ einsetzten, die Dr. Kuhn ihm gegeben hatte. „Das ist nah genug, Elise.“

Sie blieb in einigen Metern Entfernung vor dem Rogue stehen. Als sie sprach, war ihre Stimme weich, voller Geduld und Mitgefühl.

„Hallo, Peter. Mein Name ist Elise.“

Die elliptischen Pupillen in Odolfs bernsteinfarbenen Augen zogen sich noch stärker zusammen. Immer noch keuchte er vor Anstrengung, aber sein Widerstand wurde schwächer, als er seine Aufmerksamkeit ganz auf Elise richtete.

„Ich habe Irina kennengelernt. Sie ist sehr nett. Und sie liebt Sie sehr. Sie hat mir gesagt, wie viel Sie ihr bedeuten, Peter.“

Odolf wurde ruhig in seinem engen Käfig. Elise trat einen Schritt näher. Tegan knurrte ihr eine Warnung zu, und obwohl sie stehen blieb, ließ sie sich durch seine Besorgnis nicht aus dem Konzept bringen.

„Irina macht sich Sorgen um Sie.“

„Nicht in Sicherheit“, murmelte Odolf, fast unhörbar.

„Was ist nicht in Sicherheit?“, fragte Elise sanft. „Irina ist nicht in Sicherheit?“

„Niemand ist in Sicherheit.“ Der große Kopf schwang vor und zurück, als hätte er einen Krampfanfall. Als er vorüber war, zog Odolf die Lippen von seinen riesigen Fangzähnen zurück.

„Am Kreuz liegt Wahrheit“, murmelte er beim Ausatmen.

„Richte den Blick, den Blick …“

„Was bedeutet das, Peter?“ Elise las ihm die ganze Passage vor. „Können Sie uns das erklären? Wo haben Sie das gehört?

Haben Sie es irgendwo gelesen?“

„Burg und Ackerkrume sollen sich zusammenfinden“, wiederholte er. „Auf die östlichen Grenzlande richte den Blick …“

Wieder trat Elise einen halben Schritt vor. „Wir versuchen, zu verstehen, Peter. Sagen Sie uns, was Sie wissen. Es könnte sehr wichtig sein.“

Er stieß einen Grunzlaut aus, der Kopf fiel ihm hin und her auf den Schultern, die Sehnen an seinem Hals traten hervor.

„Burg und Ackerkrume sollen sich unter der Mondsichel zusammenfinden … auf die östlichen Grenzlande richte den Blick

… am Kreuz liegt Wahrheit.“

„Peter, bitte“, sagte Elise. „Wir brauchen Ihre Hilfe. Warum gibt es keine Sicherheit? Warum denken Sie, dass niemand in Sicherheit ist?“

Aber der Rogue hörte sie nicht mehr. Mit fest geschlossenen Augen, den Kopf zurückgelegt, flüsterte er wieder und wieder die unsinnigen Sätze vor sich hin, ein schneller, atemloser Strom von Wahnsinn.

Elise sah zu Tegan zurück. „Vielleicht hast du recht. Vielleicht ist es wirklich Zeitverschwendung.“

Er war schon dabei, ihr zuzustimmen, als Odolf plötzlich in wieherndes Gelächter ausbrach. Sein Mund öffnete sich weit, er ließ abrupt den Kopf sinken und begann zu flüstern, so leise, dass Tegan es kaum ausmachen konnte. Er fing einige Fetzen des Rätsels auf, dann blinzelte Odolf, und plötzlich schien sein Verstand kristallklar zu sein.

In völlig klarem, rationalem Tonfall sagte er: „Das ist der Ort, an dem er sich versteckt.“

Tegans Blut wurde zu Eis. „Was hast du gesagt? An dem sich wer versteckt? Marek?“

„Er versteckt sich.“ Odolf kicherte, schon wieder überkam ihn der Wahnsinn. „Am Kreuz liegt Wahrheit.“

Tegan fiel die Glyphe ein, die sie in dem Tagebuch gefunden hatten. Die Linie des Stammes, zu der sie gehörte, war schon lange ausgestorben. Aber vielleicht war Marek ja nicht der Einzige, der als tot galt und zurückkehrt war. „Ist es Dragos? Lebt er?“

Odolf schüttelte den Kopf, ihm fielen friedlich die Augen zu.

Wieder begann er damit, das Rätsel aufzusagen, murmelte es in einem entnervenden Singsang vor sich hin.

„Verdammt noch mal!“, knurrte Tegan und trat mit ein paar wütenden Schritten an den Käfig heran. „Ist Dragos irgendwo versteckt? Sind er und Marek miteinander verbündet? Planen sie etwas zusammen?“

Odolf sang weiter vor sich hin, schlichtweg nicht ansprechbar. Nicht einmal, als Tegan den Griff des Metallkäfigs packte und ihn hart schüttelte, gab Odolf Anzeichen von Bewusstsein.

Der Verstand des Rogue hatte sich wieder abgemeldet.

„Scheiße.“ Tegan fuhr sich mit der Hand durchs Haar. In seiner Manteltasche vibrierte sein Handy, jemand rief ihn an. Er klappte es auf und bellte in den Hörer. „Ja.“

„Irgendwelche Fortschritte?“ Es war Reichen.

„Nicht viel.“

Hinter ihm im Käfig schnappte Peter Odolf in die Luft, knurrte und fluchte. Es war sinnlos, noch länger hierzubleiben.

Tegan machte Elise ein Zeichen, ihm aus der Zelle des Rogue in den angrenzenden Beobachtungsraum zu folgen.

„Wir machen gerade Schluss“, sagte er zu Reichen. „Hast du etwas über den Lakaien herausgefunden?“

„Ja, wir haben etwas. Ich bin mit Helene im Aphrodite. Sie hat den Mann hier schon ein oder zwei Mal gesehen. Hatte Ärger mit ihm, um genau zu sein.“ Reichen räusperte sich, zögerte. „Er, ähm, arbeitet anscheinend für einen Blutclub hier in der Stadt, Tegan. Er besorgt offenbar Nachschub an Frauen.“

„Himmel.“ Tegan sah Elise an, seine Venen wurden eng beim Gedanken, dass sie auch nur in die Nähe von solchem Menschenhändlerabschaum gekommen war. Blutclubs für Stammesvampire waren zwar illegal, aber einst waren sie die bevorzugte Vergnügung einer bestimmten Klasse von Vampiren gewesen. Sie bedienten die Gelüste der gelangweilten Reichen, mit Präferenzen der grausameren Art. „Irgendeine Idee, wo ich diesen Ort finde?“

„Natürlich treffen sich die Clubs selten am gleichen Ort, um ungewollte Aufmerksamkeit zu vermeiden. Helene hat schon ihre Fühler für dich ausgestreckt. Sie wird wahrscheinlich innerhalb der nächsten Stunden etwas haben.“

„Ich mache mich jetzt auf den Weg.“

„Was ist los?“, fragte Elise, als er sein Handy zuklappte und zurück in seine Manteltasche gleiten ließ.

„Ich muss eine von Reichens Kontaktpersonen in der Stadt treffen. Sie hat ein paar Informationen über den Lakaien, der dich heute angegriffen hat.“

Elises feine Augenbraue hob sich. „Sie?“

„Helene“, sagte Tegan. „Sie ist ein Mensch, eine Freundin von Reichen. Du hast sie letzte Nacht gesehen, als wir ihn vor ihrem Club abgeholt haben, dem Aphrodite.“

Elises Blick war deutlich anzusehen, dass sie sich in aller Deutlichkeit an die halb nackte Frau erinnerte, die Reichen zum Wagen hinausbegleitet hatte. „Na gut“, meinte sie mit einem schnellen Nicken, „gehen wir und reden mit ihr.“

Tegan streckte die Hand aus und hielt sie am Arm fest, als sie sich aufmachen wollte, den Korridor zu betreten. „Ich nehme dich nicht mit zu Helenes Club, Elise. Ich könnte dich am Dunklen Hafen absetzen …“

„Warum?“ Elise zuckte unbekümmert die Schultern. „Ich habe keine Angst, einen Nachtclub zu besuchen.“

Tegan kamen die drastische Bilder der vorigen Nacht in den Sinn, sie standen in allen grellen Details vor seinem inneren Auge. „Es ist, äh, nicht diese Art von Nachtclub. Es wäre dir unangenehm. Glaub mir.“

Ihre Augen wurden groß, als sie verstand, was er meinte.

„Willst du mir etwa sagen, dass das ein Bordell ist?“

Er antwortete nicht gleich, aber das musste er auch gar nicht, sie begriff sofort. Er sah, wie sie mit einem leichten Stirnrunzeln darüber nachdachte. „Bist du dort gewesen?“

Tegan hob leicht eine Schulter an und fragte sich, warum zum Teufel es sich so schäbig anfühlte, das zuzugeben. „Reichen hat mich gestern Abend dorthin mitgenommen, um Helene zu treffen.“

„Letzte Nacht“, sagte sie, ihre blassvioletten Augen verengten sich, als sie ihn ansah. „Letzte Nacht hast du ein Bordell besucht

… nachdem wir … oh. Okay, ich verstehe.“

„Es ist nicht, wie du denkst, Elise.“

Er verspürte den plötzlichen, absurden Impuls, ihr zu versichern, dass im Club nichts geschehen war, aber Elise schien an Entschuldigungen überhaupt nicht interessiert. Mit brüsken Bewegungen zog sie sich ihren Mantel an und knöpfte ihn zu.

„Ich bin fertig, wir können jetzt gehen, Tegan.“

Er fiel neben ihr in Schritt, als sie den Korridor entlangging.

„Es sollte nicht lange dauern mit Reichen. Sobald ich dort fertig bin, komme ich zurück in den Dunklen Hafen, und dann können wir versuchen, ob wir Odolfs Gefasel von heute Abend irgendeinen Sinn entlocken können.“

Elise warf ihm einen Blick zu, der keinen Widerspruch duldete. „Wir können auf dem Weg ins Aphrodite darüber reden“, sagte sie. „Ich komme mit.“

Er sah sie an - ihr Blick war unnachgiebig - und stieß ein besiegtes Kichern aus. „Wie du willst. Aber sag mir hinterher nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.“

 

Trotz ihres behüteten Lebens in den Dunklen Häfen hatte Elise sich nie für prüde gehalten. Aber mit Tegan durch den privaten Hintereingang des Club Aphrodite zu gelangen, gab ihr doch eine unerwartete Schnelllektion in Sachen Erotik.

Sie wurden von einem riesigen, muskelbepackten Mann in einem dunklen Maßanzug eingelassen. Er trug ein schnurloses Headset am Ohr, ein kleines Mikrofon bog sich zu seinem Mund hinunter, unter dem ein Ziegenbärtchen prangte. Er sprach hinein, vermutlich teilte er seiner Chefin mit, dass ihre Gäste eingetroffen waren, während er Tegan und Elise durch das Erdgeschoss des Clubs führte.

Dekoriert mit bunten Karnevalsgirlanden, waren Lounge und Bar mit ihren Armaturen und Beschlägen aus poliertem Messing und der erlesenen Möblierung ein visueller Augenschmaus.

Nackte Schönheiten räkelten sich auf Sofas mit Tierfellmuster.

Einige von ihnen widmeten sich in aller Öffentlichkeit einem oder zwei Kunden. Wieder andere gaben eine erotische Darbietung zum Besten, küssten und streichelten einander, während Männer in seidenen Bademänteln oder Saunatüchern ihnen mit verzückten, erhitzten Blicken zusahen.

In einem anderen Kuschelnest in der Nähe der Bar wurde gerade ein Mann von vier Frauen gleichzeitig verwöhnt. Elise schaffte es kaum, nicht mit offenem Mund auf den Wirrwarr von sonnengebräunten Armen und Beinen zu starren. Selbst über den leisen, dröhnenden Rhythmus der Musik hinweg, die über Deckenlautsprecher rieselte, konnte sie das Geräusch hören, wie Haut auf Haut klatschte, und das lustvolle Stöhnen und die heiseren Schreie der Erlösung, die aus praktisch jeder Ecke der Lounge kamen.

Von so vielen Menschen umgeben, kämpfte Elise gegen das dunkle Dröhnen ihrer Gabe an, die zum Leben erwacht war, sobald sie den Club betreten hatten. Zum Glück war das meiste des Ansturms, der sie traf, lustvoller Natur, einiges davon von drastischer Deutlichkeit, aber nicht verstörend genug, um richtigen Schmerz hervorzurufen.

Sie erinnerte sich an Tegans Lektion und griff mit ihren Gedanken nach einer der unbedrohlichsten Stimmen, die ihren Kopf erfüllten. Sie zog sie hervor und benutzte sie, um die anderen zu dämpfen, während sie durch den Club ging.

Als sie wagte, einen Blick auf Tegan zu werfen, bemerkte sie, dass er sie anstarrte. Wenn er etwas von all den öffentlich vollzogenen Paarungen um sie herum bemerkt hatte, schien er nicht im Geringsten davon beeindruckt. Nein, er schien viel mehr daran interessiert, ihre Reaktion zu beobachten. Sein Blick war hart und durchdringend, sein Kiefer so fest zusammengepresst, dass ihm schon fast die Zähne zerspringen mussten.

Von der Intensität seines Blickes wurde ihr innerlich zu warm. Elise blinzelte und sah weg. Aber von ihm wegzusehen bedeutete, mehr von diesem Club zu sehen. Mehr rohe, pulsierende Sexualität, die ihr Tegans Anwesenheit nur umso deutlicher bewusst machte, und die lebhafte Erinnerung daran, wie gut sich ihre Körper zusammen anfühlten.

Ihre Erleichterung hätte unmöglich größer sein können, als ihr Begleiter vor einem Fahrstuhl stehen blieb und sie in eine wartende Kabine führte.

Sie fuhren in den vierten Stock hinauf. Der Lift öffnete sich in eine Suite mit Glaswänden, die offenbar als Büro und auch als Schlafzimmer fungierte. Reichen erhob sich von dem luxuriösen, runden Bett, auf dem er sich in eleganter Haltung ausgestreckt hatte, um sie zu begrüßen. Sein weißes Hemd war aufgeknöpft, seine maßgeschneiderten grauen Hosen brachten seine schlanken Hüften und den glatten, muskulösen Oberkörpper gut zur Geltung. Die Dermaglyphen des Vampirs wirbelten in flügelähnlichen Schnörkeln über seine Brustmuskeln und akzentuierten die maskuline Schönheit ihrer Form.

Er schien es gewohnt, bewundert zu werden, und lächelte nur, als Tegan und Elise in den Raum traten.

„Mir war nicht klar, dass Sie Tegan hierher begleiten würden“, sagte er und nahm galant Elises Hand. „Ich hoffe, Sie sind nicht allzu schockiert.“

„Nicht im Geringsten“, sagte sie und hoffte, dass ihr nicht anzumerken war, wie unbehaglich sie sich fühlte.

Reichen stellte sie der groß gewachsenen Brünetten vor, die sie letzte Nacht mit ihm gesehen hatte. Die junge Frau trug einen elfenbeinweißen Hosenanzug von raffinierter Schlichtheit, den man eher in einem Vorstandszimmer als in einem Bordell vermutet hätte. Heute Abend war ihr dunkles Rabenhaar in einem losen Knoten aufgesteckt, festgehalten von einem Paar glänzender Essstäbchen aus Schildpatt.

Sie war der Inbegriff von Professionalität. Ein eigentümlicher Kontrast zu den Überwachungsvideos auf den Flachbildschirmen, die hinter ihr an der Bürowand angebracht waren.

Während auf den Monitoren die Menschen aus dem Erdgeschoss des Clubs miteinander beschäftigt waren, lächelte die junge Frau nur liebenswürdig, als Reichen und Elise vor ihr stehen blieben.

„Dies ist Helene“, sagte Reichen. „Die Eigentümerin des Clubs und eine gute Freundin, die mein volles Vertrauen genießt.“

„Hallo“, sagte Elise und streckte ihr die Hand hin. „Ein Vergnügen, Ihre Bekanntschaft zu machen.“

„Ganz meinerseits“, schnurrte Helene mit ihrem deutschen Akzent. Elises Finger wurden in einem kräftigen und doch femininen Griff gehalten, der das Selbstbewusstsein spiegelte, das in Helenes dunklen Augen blitzte. Dieser selbstbewusste Blick glitt nun in Tegans Richtung, und höflich tat sie so, als kannte sie ihn nicht, eine Geste, die wohl Elise gelten sollte. „Hallo, und willkommen im Club Aphrodite, alle beide.“

„Schön, Sie wiederzusehen, Helene“, sagte Tegan, sein Tonfall schnitt das höfliche Geplänkel ab und machte allem falschen Anschein ein Ende. „Reichen sagt mir, Sie haben Informationen für uns.“

„Ja, allerdings.“

Sofort ging die junge Frau auf Tegans nüchternen Geschäftston ein und griff nach einem Laptop, der auf ihrem Schreibtisch stand. Sie klappte ihn auf und tippte etwas auf der Tastatur. Hinter ihr wurde einer der Überwachungsmonitore an der Wand erst schwarz und zeigte dann ein Standbild aus einem Überwachungsvideo - einen Mann, der unten im Club an der Bar saß. Die Narbe, die sich über das Gesicht des Lakaien zog, identifizierte ihn sofort.

„Das ist er“, sagte Elise. Immer noch konnte sie seine bösen Hände auf sich spüren, immer noch seine hässlichen Gedanken hören, die ihr in den Ohren dröhnten.

„Er kam nur ein paar Mal. Ein übler Kerl, sehr grob zu den Mädchen. Ich habe ihm vor ein paar Monaten Clubverbot erteilt. Erst später habe ich Gerüchte gehört, dass er mit den Blutclubs zu tun hat.“ Helene sah zu Elise hinüber. „Sie hatten heute Glück. Es freut mich, dass Sie ihm ein paar Schmerzen bereitet haben.“

Elise fühlte sich alles andere als stolz auf das, was sie getan hatte. Vielmehr schauderte sie innerlich beim Gedanken an die Blutclubs. In Boston gab es sie seit Jahrzehnten nicht mehr, was in erster Linie der Agentur zu verdanken war, die sich die illegalen Betriebe vorgenommen hatte. Quentin hatte sie besonders verachtet, für ihn waren sie nichts weiter als ein organisierter Zeitvertreib, in dem gefangene Menschen die Spielzeuge von perversen Stammesvampiren waren. Bei dem Gedanken, dass sie und Irina nur um Haaresbreite davon entfernt gewesen waren, einem Mann in die Hände zu fallen, der den nötigen Nachschub für diese Aktivitäten besorgte, wurde ihr eiskalt.

Tegans harter Blick, der auf ihr ruhte, sagte ihr, dass ihm die Idee genauso wenig gefiel wie ihr. „Gibt es eine Spur zu den Clubs in der Gegend? Irgendetwas über die Partner dieses Kerls, oder jemand, der vielleicht seinen Namen kennt oder weiß, wo er zu finden ist?“

Helene nickte und tippte wieder etwas in den Laptop. „Ich pflege ein paar Freundschaften mit Polizeibeamten. Der Lakai ist den Gesetzeshütern nicht unbekannt.“ Sie ging zu einem Laserdrucker hinüber, der hinter ihrem Schreibtisch stand, und zog einen Ausdruck heraus. „Es ist mir gelungen, sein letztes Verhaftungsprotokoll zu bekommen, das seinen Namen und die Adresse enthält, unter der er zuletzt gemeldet war.“

„Eine schöne Frau mit den richtigen Verbindungen“, meinte Reichen anerkennend, als Helene Tegan den Ausdruck reichte.

Elise sah zu, wie Tegan jedes Detail des Reports studierte, die Augen schmal, sein Verstand lief auf Hochtouren. Er sah zu Reichen hinüber. „Fährst du Elise in den Dunklen Hafen zurück?“

„Natürlich. Es wird mir ein Vergnügen sein.“

„Was wirst du tun, Tegan?“ Schon als sie die Frage stellte, wusste sie genau, was seine Absichten waren. Er würde ausziehen und den Lakaien töten, der sie angegriffen hatte. Sie konnte sehen, wie seine Kriegernatur die Kontrolle übernahm, mit allen Sinnen und tödlichem Fokus auf ein einziges Ziel ausgerichtet.

„Tegan … sei einfach vorsichtig.“

Einen langen Augenblick lang sah er sie an, dann wandte er sich wieder Reichen zu. „Bring sie hier weg. Wir treffen uns im Dunklen Hafen, wenn ich es zu Ende gebracht habe.“

Elise wollte die Arme um ihn schlingen, aber Tegan stapfte schon in Richtung Aufzug, ein einsamer Krieger mit einer einzigen Aufgabe. Das war er in Wirklichkeit, und das würde er immer bleiben.

Sie schloss die Augen, als er in die wartende Kabine trat und sich die polierte Messingtür hinter ihm schloss. Ihre Sinne folgten ihm, als er hinabfuhr, ihre Blutsverbindung zu ihm warm und lebendig in ihren Adern. Das war der einzige Teil von ihm, an dem sie sich wirklich festhalten konnte; und sie wusste nicht, ob er sie jemals näher an sich heranlassen würde, um mehr zu bekommen als nur das.

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